Hugo Brainins Rede anlässlich des Gedenkens an den 12. März 1938 im Burgtheater

14.3.2018

In einer der ersten Szenen der Tragödie „Julius Cäsar“ von William Shakespeare ruft ein Wahrsager Cäsar zu: „Hüte Dich vor den Iden des März!“ Diese Warnung hat Cäsar aber nicht geholfen. Er wurde am 15. März von Brutus ermordet. Im Laufe der Jahrhunderte verschob sich das Datum auf den 11. März, aber die Warnung „hütet euch vor den Iden des März“ traf die Juden in Österreich 1938 mit voller Grausamkeit.

Der Antisemitismus hatte und hat in Österreich eine alte und unveränderbar scheinende Tradition. Damit verbunden ist Deutschtümelei und Nationalsozialismus. Bundeskanzler Dollfuss wurde in einem gescheiterten Putschversuch ermordet. Die Täter waren Mitglieder der österreichischen Legion, einer Gruppe österreichischer Nazis, die nach Deutschland geflüchtet waren. Damals wurde von den Austro-Faschisten das Lied gesungen: „Ihr Jungen erschießt die Reihen gut, ein Toter führt uns an. Er gab für Österreich sein Blut, ein wahrer deutscher Mann.“ Dieser „wahre deutsche Mann“ hat am 12. Februar 1934 in einem von ihm angezettelten Bürgerkrieg, mit Kanonen des österreichischen Bundesheeres, gemeinsam mit der Heimwehr, auf Gemeindebauten schießen lassen. Er hat die Sozialdemokratie zerschlagen, nachdem er schon vorher das Parlament ausgeschaltet und den austrofaschistischen Ständestaat errichtet hatte. Mitglieder des sozialdemokratischen Schutzbundes wurden erschossen, andere wurden in das Anhaltelager Wöllersdorf verbracht. Darunter war auch der Nachkriegsbundeskanzler Bruno Kreisky. Darüber hat keine mir bekannte Zeitung im Jahr 2018, dem sogenannten Erinnerungsjahr, berichtet. Offenbar wollte niemand das Wunderkind der österreichischen Politik kränken.

Ist es möglich, dass es eine zentrale Medienlenkung gibt, die über die eigene Partei hinausgeht? Das wäre wohl mehr als bedenklich! Die Heimwehr war eine paramilitärische Truppe der Austrofaschisten, ihr Kennzeichen war der Hahnenschwanz am Kappl. Wir sangen damals: „Hahnenschwänzler bist ein armer Tropf, was der Hahn am Hintern trägt, das trägst Du am Kopf.“

Die Machtergreifung der Nazis im März 1938 habe ich als 13jähriger Bub sehr bewusst miterlebt. Tags zuvor lag eine ungeheure Spannung in der Luft. Eine Betriebsrätekonferenz in der Floridsdorfer Lokomotivfabrik hatte beschlossen, eine Delegation zu Bundeskanzler Schuschnigg zu entsenden, um die Herausgabe von Waffen an den Schutzbund und die Arbeiterschaft zu fordern. Es gab eine große Demonstration auf der Ringstraße für ein selbstständiges Osterreich und zur Unterstützung der für Sonntag, den 13. März angesetzten Volksabstimmung, „JA zu Österreich!“.

Von dieser Demonstration bin ich dann zu meinem Onkel in sein Geschäft in der Wiener Innenstadt gegangen. Er war sehr besorgt um mich und schickte mich auf schnellstem Wege nach Hause, zu meiner Tante, bei der ich seit dem Tod meiner Eltern mit meinem Bruder lebte. Am Abend des 11. März waren wir zum Nachtmahl eingeladen und alle lauschten gespannt auf die angekündigte Rede von Bundeskanzler Schuschnigg. Dann hieß es, dass er der Gewalt weiche, um nicht deutsches Blut zu vergießen. Er schloss mit den Worten: „Gott schütze Österreich“. Dann ertönte der langsame Satz des Streichquartetts von Joseph Haydn, mit der Melodie, die zur Kaiserhymne und dann zur österreichischen Bundeshymne wurde. Wir waren sehr bedrückt und machten uns auf den Heimweg von der Glockengasse zur Nordbahnstrasse im zweiten Bezirk. Kaum auf der Strasse, hörten wir Gejohle und „Heil – Hitler“ Rufe, sowie den gebrüllten Slogan: „Ein Volk -ein Reich -ein Führer“, von den Massen skandiert.
Viele Wiener Polizisten in Uniform waren zu sehen. Sie waren bereits mit Hakenkreuzbinde am linken Arm unterwegs. Von überall konnte man das Klirren von zerborstenen Glasscheiben hören. Schon damals, lange vor der Reichspogromnacht, wurden die Scheiben von Geschäftslokalen und Wohnungen, deren Besitzer als Juden bekannt waren, zertrümmert. Es war eine Walpurgisnacht, doch wir gelangten unbehelligt in unsere Wohnung in der Nordbahnstrasse.

Bis heute ist es für mich erschreckend, wie rasch die Stimmung der Menschen in so wenigen Stunden völlig kippen kann. Es waren doch dieselben Menschen, die noch am Tag zuvor mit Begeisterung für ein unabhängiges Österreich demonstriert hatten und nun der Massenhysterie der Nazis erlegen sind. Sie ließen jetzt ihrem Hass und ihrer Brutalität gegenüber dem vorgegaukelten, vermeintlichen Feind und Verursacher allen Übels, den Juden, freien Lauf. Dieselben Menschen, welche die Parolen wie „Ja zu Österreich“ auf die Gehsteige geschrieben hatten, holten nun unter großem Gejohle und diesmal mit Hakenkreuzbinden am Arm, ihre jüdischen Nachbarn auf die Strasse und zwangen sie, diese Parolen mit Reibbürsten oder auch mit Zahnbürsten von den Gehsteigen zu entfernen. Diese bedrohlichen Demütigungen, Reibpartien genannt, waren plötzlich für so viele wie ein Kirtag mit guter Unterhaltung. Seit damals überkommt mich Unbehagen, wenn ich aufgeputschte Menschenmengen, oft in Bierzelten, aber auch an sogenannten vornehmeren Orten sehe, die mit Begeisterung den Hetzreden mancher Politiker lauschen, die heute wieder einen Schuldigen für die von ihnen verursachten Schwierigkeiten nicht nur suchen, sondern auch zu finden meinen. Damals waren es die Juden, heute sind es die „Ausländer“, Flüchtlinge, die man entwertend Asylanten nennt oder Roma und Sinti. Es ist dieselbe Geisteshaltung und dazwischen taucht auch immer wieder eine Judenkarikatur auf. (Von den einschlägigen Liederbüchern ganz zu schweigen!) Dieser bewusst geschürten Hysterie müssen verantwortliche Menschen - und ganz besonders Politiker - offen und mutig entgegen treten, um eine neue katastrophale Entwicklung zu verhindern. In Österreich wurden 200 000 Juden verfolgt und ausgeraubt, mehr als 130 000 von ihnen vertrieben und verjagt, und 67 000 ermordet. Ebenso erging es tausenden Sinti und Roma, Homosexuellen und Geisteskranken. Deserteure, die die Verbrechen der Wehrmacht gegen die Zivilbevölkerung in den von den Nazis besetzten Ländern nicht mitmachen wollten, wurden genauso gnadenlos verfolgt und umgebracht wie Widerstandskämpfer oder einfache politische Gegner.

© Privatarchiv Brainin