Der Aufstand fand nicht statt | Lotte S. 05

Die zweite Sache war, dass dieser Aufstand zusammen mit den polnischen Partisanen durchgeführt werden sollte. Die Männer hatten ja Kontakt nach draußen. Man wird einen bestimmten Tag vereinbaren, wann es losgeht. Wir Frauen, die in der Fabrik arbeiteten, sollten Zangen organisieren, damit man den elektrischen Draht durchschneiden kann. Die Kampfgruppe, dazu gehörte auch unsere Organisation in Birkenau, sollte sehr rasch durchlaufen, um zu den draußen wartenden Partisanen zu gelangen. Mit uns alle jene, die bereit gewesen wären, mit uns gemeinsam zu kämpfen. Wie sich das wirklich abgespielt hätte, weiß ich nicht. Es ist mir tatsächlich gelungen, eine solche Zange aufzutreiben. Eine Freundin, sie war Stubova, hat sie auf ihrem Block versteckt. In der Fabrik hab‘ ich mit sehr vielen Mädchen gesprochen, hauptsächlich mit jüdischen Mädchen vom Warschauer Ghetto, die sich schon dort am Aufstand beteiligt hatten. Sie waren bereit, wieder zu kämpfen. Wir haben auf den Tag gewartet. Beim Zaun, der unsere Blocks umgab, sind wir auf- und abgegangen nach der Arbeit, oft spät am Abend, und haben auf die von den Außenkommandos zurückkehrenden Kameraden gewartet, die uns die Nachricht und den Termin für den Aufstand bringen sollten. Es war vergeblich. Der Tag kam nie. Der Aufstand hat nicht stattgefunden. Angeblich haben ihn die Leute draußen abgeblasen, die Partisanen oder die Rote Armee, ich kann es nicht sagen. Wir waren sehr, sehr deprimiert.
Wir wollten kämpfen, nicht kampflos sterben. Einmal hab‘ ich vom Klahr eine kleine Dose Sardinen und ein Brieferl bekommen, in dem stand: „Das schick ich dir, du als Leiterin hast das allein zu essen, du musst dich stark halten, man weiß ja nicht, es kommt der Tag X.“. Ich hab‘ alles zu einer Zusammenkunft unserer Leitung ins Frauenlager Birkenau mitgebracht. In der Leitung der internationalen Kampfgruppe waren eine Französin, eine Belgierin, eine Jugoslawin, eine Russin, eine Polin und noch einige neben mir. Schauts, hab‘ ich gesagt, der hat mir das geschrieben, das hab‘ ich gekriegt. Das kommt doch nicht in Frage, dass ich das alleine aufess‘! Was machen wir? Also haben wir beschlossen, die Dose muss geöffnet und der Inhalt an alle verteilt werden. Drei oder fünf Sardinen waren drinnen, die haben wir in winzige Stückerl zerschnitten und jeder in den Mund geschoben. In Wirklichkeit ein Witz, aber auch das hat unsere Moral gestärkt. Bei den Frauen in unserer Gruppe ist Solidarität grossgeschrieben worden. Vom Klahr bekam ich dann eine Mitteilung, ich sollte versuchen, über unsere Organisation Wertgegenstände zu sammeln, Goldfüllfedern oder Geld, Schmuckstücke — als Fluchthilfe, zur Bestechung der SS. Es gab ein Kommando namens Kanada, dort mussten Häftlinge Wertgegenstände und Kleidungsstücke der Deportierten für die SS sortieren. Hie und da konnten sie davon etwas organisieren. Über unsere Verbindungsleute in der Union haben wir einiges ins Männerlager geschleust. Der Klahr ist dann tatsächlich aus dem Lager geflüchtet. Bevor es so weit war, hat er mir noch geschrieben, mein nächster Verbindungsmann wird der Pepi Meisel sein. Von dem bekam ich später eine Verständigung, dass er ebenfalls flitzen wird. So sind die beiden weg gewesen. Vor allem unter den sowjetischen Kriegsgefangenen hat es sehr viele gegeben, die einen Fluchtversuch unternommen haben. Alle paar Tage gab es Alarm, die Sirenen heulten auf, und wir mussten alle stundenlang Appell stehen. „Glückliche Reise, glückliche Reise!“, haben wir geflüstert, während des starken Sirenengeheuls. Das ist durch alle Reihen gegangen. „Glückliche Reise, hoffentlich gelingt die Flucht!“. So etwas hat uns aufgerichtet. Obwohl wir manchmal stehen mussten, bis uns schwarz vor den Augen wurde. Die Situation im Lager Auschwitz und im Lager von Birkenau war ganz verschieden. Es gab wenige Frauen, die geflüchtet sind.