Der Aufstand fand nicht statt | Lotte S. 03

Die SS war auf einen ruhigen Ablauf bedacht, bis zur letzten Minute wurden die Menschen getäuscht und betrogen.
Trotzdem haben bei jedem Transport Leute versucht, noch knapp vor der Gaskammer wegzulaufen. Die haben offenbar erkannt, was man mit ihnen vorhat. Die SS hat sie gleich niedergeknallt. Gegen Maschinengewehre, was können Sie machen? Sie können einem SSler noch eine Ohrfeige geben, und das ist hundertfach passiert. Womit konnte man sich wehren, wenn man mit bloßen Händen der bewaffneten SS gegenüberstand? Oder in der Uckermark dann, die alten politischen Häftlinge, darunter Abgeordnete, die schon elf Jahre gesessen sind, Sozialistinnen, Kommunistinnen, aus Deutschland hauptsächlich, aber auch aus anderen europäischen Ländern — keiner konnte sich in irgendeiner Weise widersetzen, als man sie ins Gas geführt hat. Ebenso wie Millionen von Menschen, vorwiegend jüdischer Herkunft, aber auch sowjetische Kriegsgefangene, die man in den verschiedensten KZs umgebracht hat. Gleich in meinen ersten Tagen in Birkenau hat es Selbstmorde gegeben. Zum Beispiel eine Holländerin, eine sehr große, gesunde, starke Person und sehr hübsch. Sie hätte vielleicht das Lager überstanden. Aber sie konnte das Ganze einfach nicht mehr ertragen und ist in den elektrisch geladenen Drahtzaun gelaufen. Ich hab‘ mir dann überlegt, was ist die Ursache? Vielleicht wusste sie niemanden, an den sie sich hätte wenden können, vielleicht fühlte sie sich verlassen. Auch zu einem Selbstmord war nur jemand fähig, der noch Kraft hatte. Die armen Elenden, die sogenannten Muselmänner, die man wie Aussätzige behandelt hat, keine Hygiene, nichts, kein Wasser zum Trinken, kein Wasser zum Waschen, was konnten die tun? Anders reagieren konnten nur Menschen, die Kraft hatten und stark waren, nicht ausgemergelte, verhungerte, die körperlich und seelisch zerbrochen waren. In der Freiheit stellt man sich alles leichter vor.
Aber wer hat draußen etwas gemacht, um denen zu helfen? frag ich mich heute. Wer? Wieviele von sieben Millionen in Österreich haben sich eingesetzt? In Wirklichkeit hat jeder, der zu überleben trachtete, Widerstand geleistet. Jeder Akt der Solidarität, jedes Stückchen Brot, jedes freundliche, aufmunternde Wort war Widerstand. Jeder Versuch, einem Stockhieb der Aufseher zu entgehen, war Widerstand. Aber ebenso wenn man erhobenen Hauptes und mit Verachtung für seine Peiniger in den Tod gegangen ist. Ich selbst bin in Belgien in einer österreichischen Widerstandsgruppe aktiv gewesen. Dort hat man mich bei meiner Tätigkeit verhaftet und nach fast einjährigen qualvollen Verhören und Torturen durch die Gestapo nach Auschwitz zur Vernichtung geschickt. Hätte der SS-Mann bei der Ankunft mit dem Finger in die andere Richtung gezeigt, wäre ich ebenso wie Millionen andere ins Gas gekommen. Ich hatte Glück und entging auch bei der nächsten Selektion. Ich wurde einem Arbeitskommando zugeteilt und kam mit Häftlingen in Verbindung, die im Stammlager schon eine Kampforganisation aufgebaut hatten. Rund um Auschwitz hat es Gruben und Fabriken gegeben, für die Kriegsmaschinerie. Man hat sich dafür die billigen und in Fülle vorhandenen Arbeitskräfte aus dem Lager geholt. Diese Fabriken haben der deutschen Rüstungsindustrie riesige Gewinne gebracht, ebenso der SS. Von ihr nämlich wurde die Arbeitskraft der Häftlinge an die Unternehmen verkauft, sie streifte das Geld dafür ein. Je weniger man den Häftlingen zu essen gab, desto größer war der Gewinn für Himmler und seine SS. Ich hab‘ in einer Munitionsfabrik gearbeitet, namens Weichsel-Metall-Union, der Niederlassung eines Metallwerkes in Deutschland. Noch heute existiert dieses Unternehmen mit denselben Eigentümern. Dort wurden Sprengköpfe hergestellt.
Bis auf das Aufsichtspersonal waren fast ausschließlich jüdische Häftlinge beschäftigt.