Der Aufstand fand nicht statt | Lotte S. 02

Bis dahin konnten wir uns nicht waschen, kein Wasser trinken, nichts. Die Toilette war eine ganz gewöhnliche Latrine, nur ein Holzbrett, sogar von dort wurde man davongejagt. Man wurde vom Wasser davongejagt, man wurde vom Klo davongejagt, dabei hat es immer geheißen Sauberkeit ist das, was einen hier am Leben erhält. Aber die SS hat alles gemacht, um Sauberkeit von einem fernzuhalten. Und ständig: „Du Drecksau, du Schwein, du Mistbiene! Du stinkst!“. Als die Blockälteste geschrien hat, alles anstellen, ihr kommt unter die Dusche, war ich froh. Ich hab‘ aufgeatmet, endlich kann ich mich waschen, das erste Mal seit meiner Verschickung aus Belgien. Man stellt sich an — dort waren nicht nur Neuankömmlinge — wird rausgeführt auf die Lagerstraße, und ich seh‘, sehr viele von den Häftlingen stehlen sich weg und laufen davon. Auf dem Weg zur Dusche versuchen sie sich zu verstecken. Was ist los mit denen? Wollen die sich nicht waschen, ist ihnen kalt oder was? Das versteh ich nicht, ich bin froh, dass ich ins Bad komm‘, und die, die laufen davon. Ich hab‘ es nicht begriffen, niemand hat mir etwas gesagt. Ich sehe noch, wie man einzelnen mit Stecken nachjagt und sie anschreit: „Du Schwein, du kommst jetzt in die Sauna!“. Warum muss man die so jagen, hab‘ ich überlegt. Warum wollen die sich nicht waschen? Aber sie haben schon gewusst, was da passiert, und ich nicht. Einige der Frauen haben begonnen, sich die Wangen mit einem Stück Ziegelstein zu färben. Komisch, hab‘ ich mir gedacht, die ziehen sich da aus, müssen sich duschen, und was tun sie? Die Wangen rot färben! Wir kommen in die sogenannte Sauna: Alles ausziehen, Kleider gebündelt in die rechte Hand, auf der linken ist ja die Nummer. Wir gehen in den Duschraum, da stehen schon wieder SS-Männer mit so gespreizten Beinen. Wir sind schnell durchgegangen, manchen haben sie gesagt zeig die Zunge her, bei manchen haben sie die Nummer aufgeschrieben. All das hab‘ ich nicht kapiert. Vom Duschen keine Spur, noch immer kein Wasser, nichts. Dann komm ich auf den Block zurück, ein Weinen und ein Geschrei. Am nächsten Tag werden alle Nummern gerufen, die man aufgeschrieben hat, und die Frauen weggeführt. Erst jetzt haben sie es uns erzählt, die Blockälteste und die Stubenälteste, das war eine Selektion fürs Gas. Es war ihnen bei Todesstrafe verboten, den neuen Häftlingen etwas zu sagen. Eine Selektion war eine Entscheidung über Leben und Tod, getroffen von der SS. Es war reiner Zufall, wen die SS-Männer selektierten. Sie mordeten, indem sie einfach mit dem Finger gedeutet haben.
Das Grausamste und Menschenunwürdigste, was es je gegeben hat, das Barbarischste hat sich dort abgespielt. Das haben wir dort kennengelernt. Riesige Schornsteine, die Tag und Nacht brannten, mit einer lodernden Flamme. „Was ist da los?“, haben wir uns gefragt. Schön langsam haben wir dann begriffen. Nie, nie werde ich das vergessen. In Birkenau, vis-à-vis von meinem Block, war das Zigeunerlager. Immer hat man so ein Gewurl gesehen, so viele Frauen, Männer und Kinder, ein Familienlager. Und eines Tages, so gegen Abend, heißt es: „Lagersperre!“. Das bedeutet, alle müssen am Block bleiben und dürfen nicht raus auf die Lagerstraße. Am nächsten Tag in der Früh ist alles leer gewesen, wirklich gespenstisch. Über Nacht hat man alle Zigeuner weggeholt. Ich kann das nicht so in Worte fassen, dass ein Mensch versteht, was sich da abgespielt hat.
Ein menschliches Hirn kann sich so etwas überhaupt nicht ausdenken. Da war immer so ein Leben, ein Geschrei, ein Hin und Her — und plötzlich nichts. Nichts, leer, alle verschwunden. Man hat die Zigeuner ins Gas geführt, mit einem Mal. Wahrscheinlich auch mit einer Lüge, sicher hat man ihnen etwas vorgemacht.