Der Aufstand fand nicht statt | Lotte S. 01

© Privatarchiv Brainin

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Ich geb Dir einen Mantel, dass du ihn noch in Freiheit tragen kannst.
Widerstehen im KZ. Österreichische Frauen erzählen.

Hg: Karin Berger, Elisabeth Holzinger, Lotte Podgornik, Lisbeth N. Trallori

Tagelang sind wir in einem geschlossenen Viehwaggon eingepfercht gewesen, dicht gedrängt, Männer, Frauen, Kinder, Greise, ohne Verpflegung, mit einem überschwappenden Kübel in der Ecke für die Notdurft. Auf einmal wird die Waggontüre aufgerissen. Mit einem wüsten Geschrei treibt man uns ins Freie.
Wir hatten überhaupt keine Möglichkeit zu begreifen, was um uns vorging.
Im Sammellager Malines, in Belgien, hatte uns der Lagerkommandant erklärt, wir kämen nach Holland zur Arbeit. — Und jetzt, wie ein Überfall. Viele konnten nicht mehr gehen, die wurden hinausgeprügelt. Und ständig das Geschrei: „Rascher, rascher, schneller, schneller!“. Neben den Geleisen auf der Verladerampe mussten sich diese Hunderte Geschwächter, Betrogener und Verstörter in Reihen aufstellen. Wir wussten überhaupt nicht, wo wir waren. Die Fahrt nach Holland hätte doch nur wenige Stunden gedauert, wir aber waren mehrere Tage im Viehwaggon eingesperrt gewesen. An dieser Rampe, wo sie uns aufgestellt haben, gab es Lastautos und SS-Männer. Breitspurig sind die dagestanden, haben einen angeschaut und gedeutet — nach rechts oder links. Einer von ihnen hat erklärt, rechts gehen die Müden, Schwachen und Kranken. Gleichzeitig hat er junge Mütter mit Kindern in diese Richtung gewiesen. Er erklärte, dass wir hier in unserem Arbeitslager angekommen sind, dass die Schwachen und Kranken jetzt gut versorgt werden. Sie sollen auf ein Lastauto steigen, man hilft ihnen, sie sollen schön ins Lager fahren, zusammen mit den jungen Müttern und Kindern. Alle, die auf die Lastautos hinauf sind, haben wir nie mehr wiedergesehen. Erst viel später verstanden wir, was sich hier abgespielt hat: die erste Selektion in Auschwitz.
Von unserem Transport, bestehend aus 655 Personen, großteils Juden, sind 417 Personen direkt von der Rampe weg durch Vergasung ermordet und 140 Männer sowie 98 Frauen ins Lager eingeliefert worden. Diese genauen Zahlen hab‘ ich erst nach dem Krieg herausgefunden. Als wir ankamen, es war im Jänner 1944, wurde uns alles weggenommen: Kleider, Haare. Die Kopfhaare, die Schamhaare, alles wurde geschnitten, alles abrasiert. Nach dieser brutalen Einschüchterung noch diese Erniedrigung und diese Scham — alles nur, um den Frauen die Würde zu nehmen und ihren Willen zu brechen. In einer Baracke haben uns dann Häftlinge die Nummer eintätowiert. In einen ganz abgesonderten Block nach Birkenau hat man uns gebracht, eigentlich war es ein Pferdestall. Quarantäneblock hat sich das genannt. Von dort wurden wir zum Steinkommando geholt. Riesige Steinblöcke mussten wir aufnehmen — ohne Handschuhe, mit bloßen Händen — und von einem Haufen zum anderen tragen. Von dort dann wieder einen anderen Steinblock auf den nächsten Haufen schleppen. Alles im Laufschritt, mit Holzschuhen ohne Riemen, unter ständiger Beschimpfung und Bedrohung. Schwerste körperliche Arbeit, völlig sinnlos, nur um die Häftlinge zu dezimieren. Über dem Lagertor war groß der Spruch angebracht „Arbeit macht frei". Richtig wäre gewesen „Tod durch Arbeit". Nach ein paar Tagen, vielleicht nach einer Woche, heißt es: „Anstellen zum Duschen!“.