Seit diesem Tag hab‘ ich mit ihr nicht mehr reden können, ich habe mich von ihr ferngehalten. Das einzige, was ich noch getan habe, war, dass ich sie eines Tages bat, mir ein Paar Schuhe zu bringen. Sie hatte Zugang zu einer Kammer, in der Kleidung und Schuhe aufgestapelt waren. Die Schuhe hab‘ ich für eine Kameradin gebraucht, für die Anni Amster, die ist im Winter barfuß gegangen. Das war schon ziemlich gegen Ende. Beim Hamburger Prozeß 1946/47, als die Vera auf der Anklagebank saß, hat sie mich dann als Entlastungszeugin angeführt, sie wäre so gut zu den Häftlingen gewesen, besonders zu mir.
Über das Gericht hat sie mich angefordert. Ich sag zu meinen Freundinnen, den Ravensbrückerinnen: „Schauts, was ich bekommen hab. Warum soll ich dort hinfahren? Ich kann die Vera doch nicht entlasten.“ Einige meiner Kameradinnen waren als Belastungszeuginnen bereits in Hamburg einvernommen worden. Sie haben mir geraten, fahr hin, vielleicht gelingt es dir, ein Wort gegen sie zu sagen. Wir müssen dir aber gleich mitteilen, die Verhandlung findet vor einem Militärgericht statt, du kannst nur mit Ja oder Nein antworten. Also bin ich doch gefahren. Der Verteidiger hat drei Fragen an mich gerichtet, eine davon war: „War die Vera nicht lieb zu Ihnen, hat sie Ihnen nicht Schuhe gegeben?“ Ganz rasch hab‘ ich rausgeplatzt: „Die Schuhe waren von einem Menschen, den sie ermordet hat, und ich bat um Schuhe für eine Frau, die gelebt hat! Sie sollte noch durchkommen!“ Sofort hat mir ihr Verteidiger das Wort abgeschnitten. Aber der Staatsanwalt hat mich später als Zeugin gerufen, erst dann konnte ich alles in Ruhe erzählen. Nach dem Prozess haben mich alle umringt, die Beobachter und die Presseleute. Auch einige Männer in Militäruniform, Russen, Polen und Franzosen sind gekommen und haben mir gratuliert.
Vor dem Prozess aber hat mich Veras Verteidiger durch Lautsprecher aufrufen lassen. Hinter einer Säule hab‘ ich mich versteckt. Mit dem Verteidiger einer KZ-Mörderin wollte ich gar nicht reden. Wie gescheit das war hab‘ ich gesehen als ich heimgekommen bin. Ich finde einen verspäteten Brief dieses Verteidigers vor, in dem er mir Fragen stellt und auch dazu schreibt, wie ich sie vor dem Gericht zu beantworten habe. Aber da war ja schon alles vorbei. Die letzten Tage vor Auflösung des Lagers sind keine Leute mehr weggeführt worden, nicht zum Vergasen, nicht zum Vergiften. Noch unter Aufsicht der SS sind wir hinunter nach Ravensbrück. Rot-Kreuz-Transporte kamen, um Französinnen, Belgierinnen und Frauen anderer Nationalität nach Schweden zu bringen. Ich hätte mich da auch anschließen können, aber ich hab‘ mir gedacht, ich hab schon genug, ich will nur nach Wien. Im Juli 1945 bin ich schließlich angekommen. Einer meiner ersten Wege hat mich in den 9. Bezirk geführt, in die Liechtensteinstraße, zu dem Haus, in dem meine Familie und ich bis zu unserer Trennung durch die Nazis gelebt haben. Von meinen vier Geschwistern, die in verschiedene Länder geflüchtet waren, wusste ich nichts, von meinem Vater, dass er in ein KZ verschleppt worden war. Er wurde in Buchenwald ermordet. Und von meiner Mutter, dass man sie von der Rampe in Auschwitz direkt in die Gaskammer gebracht hat. Jetzt war ich vor unserem Wohnhaus und plötzlich steht die Mutter meiner besten Schulfreundin vor mir. „Was! Du bist zurückgekommen? Du lebst?“, waren ihre überraschten Worte. „Und die Mama?“ – „Die ist ermordet worden!“ Sie drehte sich um und ging ohne ein weiteres Wort. Weder der Freude, noch der Trauer.