Kindheit und Jugend 03

Von dem Moment an, wo meine Mutter von zu Hause wegging, musste sie sehr viel arbeiten. Als sie nach Wien kam, musste sie sich selbst Arbeit suchen. Sie lernte das Schneiderhandwerk in Polen und sie konnte alles. Zuschneiden, Schnitte machen, nähen, sie konnte perfekt nähen. Aber die Wohnung war nicht einmal genügend groß für uns. Daher war sie auch als Schneider­werkstätte nicht sehr geeignet. Kunden hatte meine Mutter nicht immer, aber Nachbarn, die ständig kamen und gingen. Aber die meisten waren auch wahnsinnig arm und sie hatte deshalb nur ganz wenig Geld. Aber hie und da gab es auch besser Situierte. Aber das war schon in den folgenden Jahren.
Der Vater hat tachiniert. Er schlief bis zu Mittag, soviel ich mitbekam, dann putzte er sich schön heraus und ging ins Kaffeehaus. Wo genau das Kaffeehaus war weiß ich nicht, aber ich glaube am Gaußplatz. Dort hat er Schach gespielt. Nach dem Mittagessen ging er fort und kam dann immer erst spät abends heim. Er war nicht nur ein Vegetarier, er war auch ein Abstinenzler. Ich glaube aber, dass er Zigaretten geraucht hat. Er war aber von Beruf ein Schneider, hat es aber nie ausgeübt. In jungen Jahren war er in Polen ein Gewerkschaftsfunktionär.
Er fuhr von Ort zu Ort und hielt Reden. Wo er geboren ist weiß ich nicht. Meine Mutter ist in einem kleinen Dorf in Cholojow geboren. Auch in Wien war mein Vater angeblich politisch aktiv. Er gab vor, ein Marxist zu sein.
Ich wusste damals nicht, was das ist. Er besaß eine alte große Truhe, die man mit einem großen Vorhängeschloss zusperren konnte. Sie war immer zu. Manches mal, wenn er vergaß zuzusperren, haben sich alle Kinder auf die Kiste gestürzt und alles durchstöbert. Da gab es Schachspiele, die Bücher von Marx und Engels, ein riesiges Markenalbum, hauptsächlich politische Bücher, aber auch ein paar jiddische Klassiker. Das weiß ich, weil meine Mama uns öfter aus diesen Büchern vorgelesen hat. Romane von Scholem Alejchem und Schalom Asch. Aber noch öfter hat uns meine Mama Geschichten erzählt. Mein Vater und meine Mutter haben Deutsch und sehr viel Jiddisch gesprochen. Dass sie Polnisch gesprochen haben, kann ich mich nicht erinnern, höchstens einmal zwischendurch ein Wort. In Polen sprach meine Mutter Polnisch und Ruthenisch und sicher Jiddisch auch. Also meine Eltern konnten gut Deutsch, aber ein bisschen werden sie gejiddelt haben. Wenn wir öfters am Donaukanal spazieren gingen, so erinnere ich mich, dass meine Mutter dort immer Frauen traf, mit denen sie Deutsch sprach, aber es war ein Gemisch aus Jiddisch und Deutsch. Sie konnte auch Deutsch schreiben, aber es war auch ein Gemisch.