Kindheit und Jugend 01

Interview-Transkription: MC Kassetten
Lotte Brainin im Dialog mit ihrer Tochter Marianne, 28.9.2000

Ich bin in der Brigittenau zur Welt gekommen. Das Haus, in der die Wohnung war, war im Souterrain, Ecke Streffleurgasse, Karajangasse. Ein Eingang war von der Straße und der zweite Eingang war durchs Haustor in die Küche. Vorzimmer gab es keines. Es war eine Substandardwohnung. Wir waren sieben Personen. Zwei Erwachsene und fünf Kinder. Ich bin die letzte, die zur Welt gekommen ist, im November 1920. Clary ist um zehn Jahre älter. Heini ist um sieben Jahre älter, Liesl ist um drei Jahre älter und Elie ist ein Jahr älter als ich, die zwei ältesten sind in Polen zur Welt gekommen und die anderen in Wien. Die Mutter hat immer sehr viel über die Flucht aus Polen zu Beginn des ersten Weltkriegs 1914 erzählt. Auch hat sie viel über ihre Geschichte in Polen erzählt und über Pogrome. In Wien haben sie sich dann schon sicher gefühlt. Nur soweit ich mich erinnern kann, war es eine abscheuliche Wohnung. Die Kinder spielten immer auf der Straße und nicht im Park. Es gab nur den Augarten in der Nähe. Aber der war mit einer sehr hohen Mauer umgeben und doch auch weit entfernt für uns. Dort durfte ich nicht allein hingehen. Meistens spielten wir Fangerln, Tempel hüpfen, irgendwelche Versteckspiele. Die Streffleurgasse war nicht so lang, aber für ein kleines Kind war sie schon ganz schön lang. Meistens bin ich nur bis zum nächsten Eck gegangen und selten einmal über die Straße. Damals fuhren fast keine Autos, sondern nur Pferdewägen. Das heißt, es war nicht so gefährlich. Manchmal spielten wir auch mit einem Fetzenlaberl Ball. Spielzeug habe ich überhaupt nicht gekannt. Von Puppen keine Spur. Wir spielten mit den ganzen Nachbarskindern, wir waren fünf bis zehn Kinder, die immer zusammen spielten. Wir wohnten dort vielleicht bis zu meinem vierten oder fünften Lebensjahr. An die Wohnung kann ich mich noch erinnern. Die Wohnung hatte von der Streffleurgasse einen kleinen Raum, wo vielleicht einmal eine Verkaufsbudel stand. Meine Geschwister erzählten, dass es sehr lustig war, wenn ich dort durch ging. Wenn ich vom Zimmer rausging auf die Straße, mit drei oder vier Jahren, habe ich mit dem Kopf hin und her gewackelt, einmal an die Wand einmal ans Verkaufspult, weil meine Beine so rund waren, ganz rachitisch. Auch zu meiner Brust sagten sie, das wäre eine Hendlbrust. Also ich habe in Erinnerung, dass sie sich immer lustig machten. Die anderen Geschwister waren nicht so rachitisch. Wahrscheinlich sind die noch besser ernährt worden.